Warum wir niemanden retten können
Es existiert ein Unterschied, ob wir eine Person retten wollen, oder ob wir dieser Person „nur“ helfen wollen. Im Gegensatz zum „Retten“ sind wir durchaus in der Lage, anderen Menschen zu helfen, diese zu unterstützen und zu begleiten.
Auf der körperlichen Ebene ist es durchaus möglich, andere Menschen zu retten. Auf der psychischen Ebene – also eine Person vor sich selbst, vor ihren Gefühlen, Gedanken oder Verhaltensweisen zu beschützen – ist hingegen zum Scheitern verurteilt.
Die fehlende Einsicht
Um überhaupt den Eindruck zu gewinnen, dass jemand gerettet werden sollte, müssen wir eine Gefahr für diese Person wahrnehmen. Die Person steuert sozusagen – für uns ganz offensichtlich und vor „unseren Augen“ – auf eine Gefahrensituation zu. Wir erkennen die Gefahr und sehen möglicherweise sogar den Absturz einer Person voraus.
Aber nur, weil wir eine Situation als bedrohlich einschätzen, bedeutet es noch lange nicht, dass die betroffene Person dies ebenfalls so sieht.
Wir verspüren ja nur dann den Impuls jemanden retten zu wollen, wenn die zu errettende Person
- kein Problembewusstsein hat,
- keine Verantwortung für sich und ihr Verhalten übernimmt oder
- gar nicht glaubt, dass sie etwas bewirken und somit die Situation verändern könnte.
Wenn der zu Errettende nichts von seinem Problem wissen will
Es ist schwer jemanden zu retten, wenn diese Person der Meinung ist, dass sie
- kein Problem hat – ein Süchtiger, der meint, er hätte seine Sucht unter Kontrolle
- nicht die Verantwortung dafür trägt – die Ursache der Probleme nicht bei sich, sondern nur bei den anderen sieht oder bei der erlebten Geschichte wie eine Traumaerfahrung
- nicht in Gefahr ist – ein Mensch, der seine emotionalen Probleme, sein finanzielles Desaster oder seine gesundheitlichen Probleme ausblendet
- keine Selbstwirksamkeit besitzt – also nichts in ihrem Leben bewirken und somit verändern kann.
Keine Einsicht, keine Verantwortungsübernahme
Übernimmt eine Person Verantwortung für sich und ihr Leben, haben wir keinen Impuls, diese Person retten zu müssen. Retten wollen wir nur jemanden, der
- keine Einsicht zeigt – der nicht den Eindruck hat, dass seine Ansichten, der Ausdruck oder fehlende Ausdruck seiner Gefühle oder sein Verhalten zu Problemen führen,
- die drohende Gefahr ignoriert,
- keine Verantwortung für sich oder sein Verhalten übernimmt,
- durch sein Verhalten dazu beiträgt, sich auch weiterhin in Gefahr zu begeben und
- keine Veränderungsschritte setzt.
Wenn wir betrachten, welche Personen diesen Rettungsimpuls in uns auslösen, wird klar, warum es geradezu unmöglich ist, jemanden zu retten.
Auf den „richtigen“ Erlöser warten
In der Dynamik des „Rettens“ herrscht eine gewisse Erstarrung und Stagnation. Solange wir einen Retter – also eine Person im außen oder eine höhere Macht – suchen, kommen wir selbst nicht in Bewegung.
Wir mögen eine Person kurzfristig retten können, wenn diese ins tobende Meer springt, ohne überhaupt schwimmen zu können. Aber was tun wir, wenn diese Person immer wieder ins Meer zurückdrängt und sich von ihrem gefährlichen Unterfangen nicht abhalten lässt? Solange eine Person ihr Verhalten nicht verändert, wird es schwierig werden, sie langfristig zu retten.
Des Retters Schuld
Die Abwehr der Eigenverantwortung wird sichtbar, wenn das Scheitern schlussendlich am „Retter“ liegt. Der Retter
- war nicht kompetent genug. Jemand, der sein Handwerk wirklich versteht, hätte helfen können
- hat nicht genug investiert, hatte keinen ausreichend langen Atem, nicht genug Ausdauer, hat zu früh aufgegeben, nur ein wenig länger noch, dann hätte geholfen werden können
- war nicht stark genug, hat nicht genug geliebt,
um wirklich eine Veränderung herbeizuführen.
Der ohnmächtige Retter
Letztendlich steckt der Retter in derselben Abhängigkeit wie die Person, die er retten möchte. Es gibt nämlich nur einen Ausstieg aus dieser Dynamik – die Rettung muss glücken und zwar langfristig!
Was passiert, wenn die Rettung misslingt oder nicht von Dauer ist? Dann muss der Retter entweder
- zulassen, dass der andere seinen zerstörerischen Weg weiterverfolgt – also immer wieder ins Wasser läuft oder
- weiterhin versuchen, diese Person zu retten – also am Strand verharren, dass Verhalten des anderen überwachen und dabei auf das eigene Leben vergessen.
Aufgeben und zuschauen
Es fällt uns schwer, die Vorstellung aufzugeben, wir könnten jemanden retten. Der Rettungsversuch gründet ja in der Befürchtung, dass diese Person ohne diese Unterstützung abstürzt, zu Grunde geht oder stirbt.
Haben wir uns in dieser Dynamik verfangen, müssen wir schmerzhaft lernen, dass wir bei anderen Menschen oft nur zusehen können, wenn die Tragödie ihren Verlauf nimmt. Zusehen, wie ein Mensch, an dem uns etwas liegt auf eine Gefahr zusteuert, ohne dass wir dies verhindern könnten, gehört zu den schwierigsten Herausforderungen unseres Lebens.
Ohne Einsicht, wenig Aussicht
Der Rettungsimpuls ist eine völlig normale Reaktion, wenn wir sehen, wie jemand auf eine Gefahr zusteuert und manchmal sogar noch Vollgas dabei zu geben scheint. In solchen Momenten verspüre auch ich den Impuls, die andere Person vor ihrem eigenen Verhalten zu bewahren.
Schlussendlich befinden wir uns hier aber an der Grenze unseres persönlichen Wirkungskreises. Ich kann weder das Denken, Fühlen noch das Verhalten einer anderen Person verändern.
Somit kann ich nur auf eine Gefahr hinweisen, meine Sorge kundtun und meine Unterstützung anbieten. Ob der andere diese Gefahr ebenfalls sieht und meine Unterstützung will, ist und bleibt seine Entscheidung.
Zum Schluss bleibt nur noch zu sagen: Wir können niemanden retten und auch uns wird niemand retten!
Aber die gute Nachricht ist:
Jeder Mensch
kann in jedem Moment
zur Einsicht kommen und somit
seine Sichtweise und
seine Verhaltensweise verändern.
(Im Original von Brigitte Fuchs)